blick aktuell | 16.11.2015 | ahrweiler
Beeindruckende Ausstellung in Ahrweiler
Gesichter als Landschaften des Lebens
Riesenportraits von Ali Zülfikar in der Stadtgalerie Weißer Turm
Ahrweiler. Mit versonnen heiterem Ausdruck flicht eine alte Frau ihre langen Haare. Eine andere schlägt sich, erschreckt und bekümmert, bei leicht geöffnetem Mund, wo unten die mittleren Schneidezähne vorgucken, die Hände vors Gesicht. Dagegen ist eine betagte Dame, um deren Mundwinkel ein Lächeln spielt, voller Zuversicht. Ihr Gesicht wird von einem gelockten Schopf bekrönt, der, nach vorne frisiert und vermutlich mit Unmengen Haarspray gehalten, einen voluminösen Helm bildet. Derart „gepanzert“ kann sie die Dinge still vergnügt auf sich zukommen lassen.
Wer auf diese und weitere Persönlichkeiten trifft, denn das sind sie, Persönlichkeiten, nicht irgendwelche Leute, der befindet sich in der neuen Ausstellung „Angesichts“ der Stadtgalerie im Weißen Turm. Die bemerkenswerten Portraits stammen von Ali Zülfikar. Der Künstler wurde 1971 im türkischen Yavuzeli geboren. Er studierte an der Firat Universität für darstellende Kunst in Elazig und lebt in Köln. Seit 1993 hat er seine Kunstwerke in Museen und mehr als 160 Einzel- und Gemeinschafts-Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Dass sie in Ahrweiler präsentiert werden, geht auf die Kooperation der Stadtgalerie von Hans-Jürgen Vollrath und der Remagener Galerie Kunsthaus Rheinlicht von Angelika Ehrhardt-Marschall zurück.
Spuren gelebten Lebens
Warum beeindrucken diese Bilder? Weil die Gesichter darauf sehr groß sind, riesig, um genau zu sein. Denn wer sah sich jemals einem 150 mal 100 Zentimeter oder 200 mal 140 Zentimeter messendem Kopf gegenüber? Zudem fällt auf, dass neben einigen Motiven junger Frauen wie „Sonja“ und „Lady Corinne“, der gealterte Mensch im Mittelpunkt steht und zwar mit allen äußeren Anzeichen. Das ist schon etwas Besonderes in einer Zeit, in der die meisten paradoxerweise darauf aus sind, alt zu werden, ohne alt zu sein und Schönheitsindustrie und Wellness-Anbieter ihnen unablässig einreden, ihr Aussehen zu einem zentralen Anliegen zu machen und sich jugendlich zu trimmen. Die Protagonisten der Ausstellung aber haben schon lange keine glatte Haut mehr.
Ihre Erfahrungen, Trauer und Schmerz, Freude und Anstrengung, haben sich eingegraben. Eindrucksvolle Gesichtslandschaften tun sich auf, zerklüftete Gefilde, individuell geformt durch Anlage und Mimik, Biografie und Charakter.
Bei einigen der Protagonisten hat sicher ein arbeitsreiches Leben im Freien zu all den Runzeln beigetragen. Wie eine Indianerin wirkt etwa die Zopfflechterin. „Davud“, ein Schnurrbarträger mit gut geschnittenem Gesicht und Rollkragenpulli, geht ohne weiteres als Fischer durch, und der Protagonist von „Sunset“ (Sonnenuntergang), ein Mann mit faltigem Hals, Stoppelhaar und Bartstoppeln kommt einem gleichfalls wettergegerbt vor.
Faszination Portrait
Die meisten Portraitierten werben die Sympathie des Betrachters ein. Entweder ziehen die wachen Augen an oder eine Gespanntheit der Züge, die Lebensenergie verrät. Bei „Sunset“ ist es beides der Fall. Die Antlitze der Frauen haben oft etwas Warmherziges, Mütterliches, Duldendes, wobei es schwer fällt, zu sagen, woran genau solch eine Wahrnehmung festzumachen ist. Doch auch vor „Mr. Joos“, einem gewinnend lächelnden Portraitierten mit überraschend weichen Zügen für einen Mann, bleibt man gerne stehen.
Kennzeichen von Picassos wunderbarem Kopf ist eindeutig die prägnante Physiognomie, in der sich seine Entschlossenheit spiegelt. Aus seinen großen Augen spricht eine zupackende Neugier. Faszination erwecken durchaus auch weniger vertrauenserweckende Zeitgenossen, wie „Der Schamane“. Im Profil hat der unrasierte Greis den Mund offen stehen. Muss man sich vor ihm fürchten oder handelt es sich um einen verwilderten Menschen, der Mitgefühl verdient?
Es ist Ali Zülfikars Verdienst, dass seine Bilder solche Fragen hervorrufen. Zweifellos ist er ein großartiger Zeichner. Seine Technik, mit Bleistift nicht nur Konterfeis auf Papier, sondern auch auf Leinwand zu bannen, ist einzig, sein Interesse an den Personen mit ihren unverwechselbaren Lebenslinien unverkennbar.
Hohes Drama
Dennoch würde es zu kurz greifen, zu behaupten, er halte die Menschen fest, wie sie sind. Ebenso wenig schafft er fotorealistische Bildnisse. Er rückt sie, so wie er sie sieht, im überdimensionierten Format ganz nah an den Betrachter heran. Zusätzlich hat er als Künstler jene, die er aussuchte, um sie festzuhalten, unweigerlich auch interpretiert, Züge verstärkt, manches hervorgehoben, anderes weggelassen. Überdies zeigt er seine Bildgeschöpfe, um sie, ebenso wie um seine eigene Meisterschaft gebührend hervorzuheben, in einer außergewöhnlich intensiven Ausleuchtung.
Jede Narbe, Kerbe, Falte, jedes noch so kleine Härchen an der Nase wird erfasst. Ali Zülfikar heroisiert. Indem er die Gesichter so groß darstellt, so deutlich und stark moduliert, setzt er dem menschlichen Empfinden, der menschlichen Lebensleistung ein Denkmal – hohes Drama in jeder Hautvertiefung!